Brauner Osten?

Bei einem Seminar in Dresden: Die Dozentin, aufgewachsen im Osten, macht ihre Sache sehr gut. Wir kommen ins Gespräch, und so lerne ich einen Lebenslauf kennen, der so im Westen Deutschlands nicht möglich gewesen wäre:

Die Mutter der Dozentin studiert in Moskau und lernt dort einen Studenten aus Nordkorea kennen und lieben. Als sie zurück in die DDR beordet wird, weigert sie sich. Sie ist schwanger, will unbedingt bei ihrem Freund bleiben, verschanzt sich und wird mit Gewalt zurück geholt. Auch ihr Freund wird zurück in die Heimat beordert und lernt seine Tochter nie kennen. Die spätere Dozentin wird also in der DDR geboren, die Mutter hofft lange auf eine Familienzusammenführung und spricht in den ersten Jahren mit ihrer kleinen Tochter nur russisch, damit die dann auch mit ihrem Vater reden kann.

Die Dozentin ist mit ihren halbasiatischen Gesichtszügen und ihrer zierlichen Figur eine angenehm attraktive Erscheinung, und mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie sicher eine Stütze der Gesellschaft. Aber dies schützt sie nicht vor Angriffen und Pöbeleien. Sie macht einen Selbstverteidigungskurs bei der Polizei in Düsseldorf und hört dort, sie solle die Dunkelheit meiden und in bedrohlichen Situationen laut werden, um so den Schutz der Öffentlichkeit herzustellen. Sie sagt, das mache sie doch schon, trotzdem schlägt ihr einfach jemand ins Gesicht, und niemand hilft. Die Antwort der Polizei: Tja, bei Ausländern nützt das nicht so…

Die Einschätzung der Dozentin: Im Osten gibt es mehr brutale Übergriffe, aber die allermeisten Menschen sind gegenüber fremdartig aussehenden Menschen durchaus freundlich und offen. Im Westen hat sie eher den Eindruck, dass die Bevölkerung zwar nach außen friedlicher ist, aber insgesamt doch mehr durchsetzt ist mit Ressentiments. Sie erzählt von einer Tagung mit hochrangigen deutschen und russischen Bankenvertretern, bei der sie als Dolmetscherin fungierte. Wegen ihres Aussehens und ihres fließenden Deutschs und Russischs wissen die Teilnehmer sie nicht so recht einzuordnen. Die Dozentin gibt deshalb am Anfang eine knappe Erklärung zu ihrer Person ab: „Mein Vater ist Nordkoreaner, aber ich bin deutsch.“ Kommentar des Geschäftsführers einer großen deutschen Bank: „Wie können Sie sagen, dass sie deutsch sind, sie sind doch nicht arisch!“ Die Dozentin ist sehr betroffen, aber ihre Rolle gestattet ihr keine Entgegnung, und es ist für die Bankerkollegen sicher auch kein einfacher Zeitpunkt für eine Intervention. Aber auch im Nachhinein habe keiner der Herren mit ihr über den Vorfall gesprochen.

Martin Herwartz

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Ein Kommentar

  1. Noch ein Nachtrag: Die dunkelhäutige Freundin der Dozentin ertrug ihre Situation nicht mehr und sprang vom Hochhaus. Niemand zählt sie als Opfer von Ausgrenzung. Natürlich nicht. Aber Sie denken vielleicht daran, wenn Sie das nächste Mal etwas lesen zu Fremdenhass und Opferzahlen.